N° 52 Zenith Is Decline
Heute soll es an dieser Stelle zu einem kleinen Exkurs kommen. Beim nächsten Mal berichte ich, wie ursprünglich geplant, über die Zermürbung der Fahrigkeit, Zerrissenheit, namentlich jene, welche die Menschen fahrig und zerrissen macht. Es traf sich aber nun, dass uns in letzter Minute das demnächst erscheinende Album „Zenith Is Decline“ eines gewissen Myk Jung erreichte (der rein zufällig mit mir Namensgleichheit teilt) – und ich gebeten wurde, etwas darüber verlautbaren zu lassen. Ein wenig fahrig ob meiner mentalen Zerrissenheit, die ja eigentlich Thema sein sollte, recherchierte ich zaghaft, was sich als nicht ganz einfach erwies, da dieser M.J. allem Anschein nach nicht ohne Probleme an die Strippe zu bekommen ist, sich gern hinter Pseudonymen und anderen Identitäten versteckt, vornehmlich in der dritten Person von sich selbst spricht, für Interviews nicht zur Verfügung steht, mit anderen Worten: alle Anzeichen von schwerwiegenden Macken aufweist… sei’s drum:
Wer ein wenig mit dem künstlerischen Umfeld und der durchaus von Krach mitgestalteten, wenn nicht sogar missgestalteten Herkunft dieses Musikers vertraut ist, wird bei obiger Ankündigung womöglich eine Industrial Rock-Scheibe oder ähnliches erwarten, jedenfalls ordentliches Gepolter. Überraschenderweise ist dem jedoch gar nicht so, denn wie sich herausstellt, handelt es sich bei „Zenith Is Decline“ um eine Sammlung von Balladen, und das war nicht unbedingt erwartbar. Tieftraurige Gesänge, Akustikgitarren, Piano, Streicher – alles sehr zurückhaltend: wie ein düster-melancholisches Gemälde, aus dessen Rahmen Aggression, Zorn und Gewalttätigkeit offenbar zum Herausfallen verdonnert waren.
Statt Krachsamples und Verzerrer auf den Vocals transportieren die Songs etwas Verletzliches, eine Art introvertierten Weltschmerz – und da fragt man sich doch automatisch: Wieso? Oder auch: Wie kommt’s? Ich persönlich nehme an, diese unerwartete Kehrtwende rührt haargenau von der musikalischen Herkunft des Industrialhalunken her: Nach all den Jahren hat er schlichtweg die Schnauze voll vom Krach, argwöhnt der Hörer. Ich befürchte sogar, er hat von allem die Schnauze voll; aber das ist ja jetzt wirklich nur eine Mutmaßung. Auf der altertümlich gestylten CD herrscht Tristesse und unstillbares Weh, Hoffnungslosigkeit lauert hinter allen Horizonten, jegliches Frohlocken (und darüberhinaus einfach alles) verweht immerzu. Verwirrt hänge ich zwischen den Boxen. Nun trifft es sich, dass ich mich erinnere, jenen Myk schon des öfteren über die allgegenwärtige Vergänglichkeit lamentieren gehört zu haben: dass er leide unter dem Verschwinden des Augenblicks und seiner Unwiederbringlichkeit, unter der Flüchtigkeit des Glücks undsofort… und siehe! Ganz deutlich, wenn nicht sogar aufdringlich, hat er sich auf diesem Werk fast ausschließlich jenen morbiden Themen zugewandt! Das Schwinden hingegen sei es doch gerade, was jeden Moment des Lebens so kostbar, nämlich einzigartig mache, mögen die Philosophen einwenden: doch in den Augen des Künstlers scheinen solcherlei Einwände vor allem jammervolle Beschwichtigungen darzustellen; und dass der Strom der Zeit ewig allein in eine Richtung fließt und keine Wiederkehr kennt, bereitet dem Armen großes Leiden. Der erbarmungslose Trudel der Zeit – undsoweiterundsofort. Man ist versucht einzuwenden, dass derartige Klagelieder vor allem die Sorgen eines Menschen widerspiegeln, der sonst keine Sorgen hat. Zögerlich wird der Künstler dem wahrscheinlich zustimmen – und gestehen, dass auch in seinen Augen die Pein, die wir um anderer willen empfinden, den hehreren und edleren Schmerz darstellt, nämlich den selbstlosen. Altruismus. Der Antrieb, die Welt zu retten; zu leiden angesichts der Not anderer, und der Entschluss, diese wie auch immer zu bekämpfen, mögen in der Tat erhabenere Anliegen sein. Und doch ist ein Songzyklus, der sich dem Grau widmet, in das wir hinübertreten werden, in dem wir uns jetzt schon befinden in unserem unsäglichen Dahinwehen, an sich ja nichts Verwerfliches; und es ist erfreulich, dass der darbende Künstler nicht nur fruchtlos lamentiert, sondern seine uferlose Verzagtheit vehement in musikalische Formen gießt und dergestalt aus dem Leid ein Gebilde macht, daran sich andere in wehem Schauder weiden mögen. In der Tat bekommt man auf „Zenith Is Decline“ einige absonderlich-gelungene Edelschnulzen zu hören, die mich vermuten machen, dass es dem Künstler vor allem darum ging, den Hörer zu erschrockenem Stillhalten zu bewegen, und danach zum Weinen. Kostproben gefällig? „In hilflosen Gesten fuchteln wir, um doch nur Leere zu erhaschen“; oder: „Der Schmerz, sie zu sehen, schien wie ein göttlicher Splitter“; oder: „Allein wandeln wir, nacheinander und ein jeder für sich; immerwährend vorwärts, um niemals zurückzukehren.“ Eigentlich nicht übel. Edler Kitsch hat ja auch was.
Wenn man allerdings einige andere Schriften des werten Herrn M.J. in Augenschein nimmt, stößt man auf eigenartige, verdächtige Formulieren, die uns Tiefschürfende auf noch weitere Fährten bringen: so zum Beispiel lässt er sich in einem Underground-Magazin darüber aus, dass in den Fluten der ungezählten Veröffentlichungen unserer Tage viel Wunderbares hinunterpoltert in den Schlund (in den des Vergessens, selbstverständlich) – und dass selbst Platten, die für einen historischen Augenblick gefeiert werden, alsbald aus den Köpfen aller trudeln… Hatte er unter Umständen im Sinn, etwas dem Zeitenwandel sich Entziehendes zu entwerfen? Ewiges, sozusagen? Denn was ist zeitloser als wehmütige Piano-Balladen, hm? Womöglich suchte er sein eigenes „Imagine“ zu entwerfen? Es könnte was dran sein an diesen Gerüchten; obgleich ein solches Unterfangen, wie jedermann zugeben wird, ein einigermaßen hochtrabendes Ziel darstellt.
Im übrigen ist mir mittels akribischer Recherchen zu Ohren gekommen, dass Myk Jung lange mit sich gerungen hat, das Album tatsächlich unter seinem Namen zu veröffentlichen – nicht, angeblich, um sich später solchermaßen leichter von dem Werk distanzieren zu können – sondern weil er, in ewigem Selbstzweifel verheddert, dem er offenbar verfallen ist, glaubte, eine derartige Hervorhebung der eigenen Person würde dem Entstehungsprozess der Balladensammlung nicht vollends gerecht werden: zwar schrieb er die Songs, manche von ihnen gar in der Tiefe der Zeit, hingegen bleibt festzuhalten, dass zum Beispiel die feingliedrigen Piano-Passagen mitnichten aus seiner eigenen Hand stammen: er scharte befreundete Musiker um sich, ohne deren Hilfe die Balladen-Arrangements allenfalls aus schnarrenden Akustikgitarren bestönden, sorry, beständen. Ein Blick aufs Cover legt nahe, aus diesem Kreis versierter Musiker vielleicht hervorzuheben jenen Pianisten Tobi, wie auch die Arrangiermeister Ramon Creutzer und Krischan Wesenberg, den Gitarristen Lawrence, die Sängerin Miss Bliss, und – least not last – Myks zehnjährige Tochter Allegra, die nicht nur zwei Songs des Zyklus souverän singt, sondern darüberhinaus die Melodiebögen dieser zwei Perlen selber entworfen hat; und das schon in einem Alter, da sie längst noch keine zehn war, sondern viel jünger, nämlich neun!
Gerüchten, dass M.J. nicht nur an Krach-Überdruss zu leiden habe, stattdessen gar einer Art genereller Müdigkeit, wenn nicht gar Lebensmüdigkeit anheim gefallen sei, bin ich aus Gründen der Pietät nicht weiter nachgegangen; festzuhalten bleibt indes, dass er tatsächlich vor kurzem in einem Interview erwähnte, in letzter Zeit nicht selten von dunklen Depressionen heimgesucht zu sein – was uns wiederum mutmaßen macht, dass die Arbeit an Balladen demzufolge eher als eine Therapie gegen den Schwermut zu interpretieren wäre. Fraglich allerdings bleibt, ob der Künstler hinsichtlich eines etwaigen Selbstversuches zum richtigen Genre gegriffen hat: Vielleicht wird er ja durch das Entwerfen maroder Moritaten noch trauriger?
Während des Stöberns in verstaubten Archiven indes stieß ich dann noch auf einen weiteren Hinweis, der erklären könnte, weshalb möglicherweise sich der Ex-Schreihals von seinem ureigenen Terrain (zumindest für eine zeitlang) verabschiedet hat: offenbar nämlich gehört M.J. zu jener Sorte von Musikern, die nach eigenem Bekunden ihre früheren Machwerke nie mehr durchzuhören pflegen, dabei jedoch für ihre selbstauferlegte Abstinenz keine rechte Erklärung finden… was mich zu der Vermutung treibt, dass er der Hoffnung erlegen ist, mit „Zenith Is Decline“ diese nervige Gesetzmäßigkeit zu durchbrechen. Es drängt sich schlicht der Verdacht auf, dass er diesen Balladenkatalog lediglich aufnahm, um endlich eine Platte gemacht zu haben, die er selber zwischendurch mal hört. Nun denn, das wäre ein durchaus nachvollziehbarer Wunsch. Wär‘ ich eher drauf gekommen, hätte ich nicht so viel heruminterpretieren müssen. Wahrscheinlich liegt’s an der Fahrigkeit, die mich so unkonzentriert macht. Inzwischen nämlich hab‘ ich nämlich festgestellt, dass ich auch schon in der dritten Person über mich selbst spreche.