N° 55 Gedanken eines Grüblerischen in der Tiefe der Gotischen Nacht
Nach Monaten der selbstauferlegten Abkapselung und Indie-Enthaltsamkeit, in denen ich vornehmlich im stillen Kämmerchen hockte und gar artige Verse zu Monitor brachte, hielt ich es vor einiger Zeit nicht mehr aus; und es trieb mich dorthin, wohin es mich in gebührenden Intervallen immer wieder treibt: In einen der Schwarzen Tanztempel des Underground, um ein weiteres Mal den Odem echter Schwarzkultur in mich aufzusaugen; und ab ging es Richtung Gothic Industrial Party zu Essen. Es war, um’s vorweg zu sagen, keine der schillernden, schweißtreibenden, glückseligen Nächte, wie sie alle paar Monate oder Jahre aus dem Pfuhl der sich unspektakulär wiederholenden Abende herauszuragen belieben. Solche Nächte gibt es! Plötzlich, wie aus dem Nichts, schwingt sich eine einzelne dieser Partys hoch zu einer göttlichen Nacht, durchwoben von einer Intensität, einer besonders fesselnden Atmosphäre; und die Magie der Euphorie scheint sich wie gleißende Energiebögen von einem zum anderen zu spannen.
Nun gut – diese Nacht, davon ich heute berichte, gehörte nicht zu diesen Sternstunden: es war eine ganz normale, nicht besonders aufrüttelnde Nacht, und dazu kam, dass ich vom Abend zuvor (durch die Beschäftigung mit Fläschchen, die nur so auf ihr Leerwerden zu warten schienen) noch etwas angeschlagen in den Seilen hing, mit anderen Worten: ich war entfernt von jeglicher Top-Form, saß in irgendeiner Ecke, schaute dem Trubel zu und ertappte mich schließlich beim herzzerreißenden Gähnen. Und also kam ich ins Nachdenken, wie’s leicht geschehen kann, wenn man selber in einer eher passiven Rolle abhängt.
Stylisches Volk füllte die Räume, schritt gemessenen Schrittes durch den Eingangsbereich, cool bis in die Fingerspitzen, mit einem im glänzenden Auge blitzenden Ausdruck echter Lässigkeit: unnahbar, jung, strotzend vor Coolnesspower: so kamen sie mir vor. Doch kaum hatte sich ein Grüppchen zusammengefunden, das ganz offensichtlich cliquengleich zueinander gehörte, hörte ich sie alle giggeln, quatschen, johlen, Zoten reißen. Und ich erinnerte mich an früher. So war es auch bei uns gewesen, so war es immer gewesen! Nach außen hin waren wir hart, unnahbar, unübertrefflich kühl gewesen, gestylt, abweisend, fast arrogant – doch hatte sich erst einmal unser Kreis gefunden, barsten wir über vor fröhlichen, albernen, zynischen Sprüchen; wir tranken, wir lachten, waren quasselstrippengleich unterwegs… War das eigentlich ein beunruhigendes Phänomen? Hatten wir nach außen hin gar etwas vorgeschoben, was wir im Innern womöglich nicht wirklich waren?
Aber schnell beruhigte ich mich: Was war denn schlimm daran? Unsere Coolness war keine Verkleidung oder Vortäuschung nicht gegebener Umstände gewesen, natürlich nicht! Sie war genau dasjenige, in dem wir in jenen Augenblicken aufgingen, was wir im Innern empfanden, nach außen kehren wollten! Dass wir zehn Minuten später, unter uns, sozusagen, eine andere Seite von uns offenbarten, das konnte man uns schwerlich anlasten; und genauso wenig lastete ich es den jungen Leuten an, die eben ultracool durch die Tür stolziert gekommen waren und nun gackernd durcheinander brabbelten. Was wäre denn die Alternative gewesen? Still im Kreis zu hocken – und den ganzen Abend einander ins Gesicht zu schweigen? Klingt langweilig. Ich musste gähnen.
Dies war der erste Gedankengang.
[…]